(2010/2014) 60' / für drei Frauenstimmen, Posaune und Schlagzeug mit einem Text von Friedrich Hölderlin

Die Uraufführung fand am 20. September 2014 in Maastricht im Rahmen des Musica Sacra Festivals statt. Die Ausführenden waren Sven Schildknecht, Clara Meloni und Anne-May Krüger (Stimmen), Mike Svoboda (Posaune) und Michael Kiedaisch (Schlagzeug).

Besetzungen:

- 3 Frauenstimmen mit je einer kleinen Glocke (c4, c#4, e4) und einem Megaphon (nicht elektronisch)
- Posaune (Dämpfer: Cup, Straight, Wawa, Harmon, Plunger), Megaphon, 1 Eimer teilweise mit Wasser gefüllt
- Schlagzeug mit Megaphon, großer Trommel (gespielt mit Schuhbürste, leichten und schweren Schlägeln), 3 Holzstücken (ca. 120x10x6 cm, verschiedene Tonhöhen), 1 Eimer (groß genug zum Begehen) gefüllt mit kleinen Steinen, 1 Eimer teilweise mit Wasser gefüllt, 1 flacher Eimer gefüllt mit Steinen (ca. 6-12 cm ø)

Programmhinweis

Als kaum Achtzehnjähriger verfasste Friedrich Hölderlin (1770-1843) das monumentale Gedicht Die Bücher der Zeiten. Angelehnt an die "Bücher" der Offenbarung, in denen die Werke der Menschen niedergeschrieben seien, um sie am Tag der Auferstehung nach diesen zu richten, kündet das Werk in drei Teilen von den "Gräueln des Erdengeschlechts", der Erlösung durch Christus, den Errungenschaften der Menschheit und dem gerechten Lohn dafür. Mike Svoboda (*1960) überträgt die Verkündigung dieser apokalyptischen Vision drei Frauenstimmen und knüpft damit an mythologische Figuren wie die Nornen, die Seherinnen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an. Sie singen, deklamieren, hauchen den Text, verspinnen ihn zu unentwirrbaren Klanggebilden und lassen Worte aus dem biblischen Bilderrausch aufscheinen, die uns davon erzählen, daß der Mensch durch die Größe seiner Taten Gott gleich werden kann. Dabei zieht Svoboda der semantischen nicht selten die klangliche Ausdeutung des Textes vor, erweitert in diesen Momenten das Gesangstrio zum Quartett mit der Posaune und betont in seiner Klangsprache die Archaik des Gedichts. Dem archaischen Moment ist auch das Schlagzeug mit seinen Naturklängen verpflichtet. Gemeinsam mit der Posaune verstärkt es die Struktur des Texts und sinnt ihm in instrumentalen Interludien nach. Instrumente und Stimmen deuten ineinander verschränkt die Dichtung aus und verschmelzen in ihren Klangfarben.

 

Die Bücher der Zeiten

Friedrich Hölderlin (1770 - 1843)
aus Sämtliche Gedichte 1788-1795


Herr! Herr!
   Unterwunden hab' ich mich,
      Zu singen dir
         Bebenden Lobgesang.

Dort oben
   In all der Himmel höchstem Himmel,
      Hoch über dem Siriusstern,
         Hoch über Uranus Scheitel,

Wo von Anbeginn
   Wandelte der heilige Seraph
      Mit feirender, erbebender Anbetung
         Ums Heiligtum des Unnennbaren,

Da steht im Heiligtum ein Buch
   Und im Buche geschrieben
      All die Millionenreihen
         Menschentage -

Da steht geschrieben -
   Länderverwüstung und Völkerverheerung,
   Und feindliches Kriegergemetzel,
   Und würgende Könige -
   Mit Roß und Wagen,
   Und Reuter und Waffen,
   Und Szepter um sich her;
   Und giftge Tyrannen,
   Mit grimmigem Stachel,
   Tief in der Unschuld Herz.
   Und schröckliche Fluten
   Verschlingend die Frommen,
   Verschlingend die Sünder,
   Zerreißend die Häuser
   Der Frommen, der Sünder.
   Und fressende Feuer -
   Paläste und Türme
   Mit ehernen Toren,
   Gigantischen Mauern
   Zernichtend im Augenblick.
   Geöffnete Erden
   Mit schwefelndem Rachen
   Ins rauchende Dunkel
   Den Vater, die Kinder,
   Die Mutter, den Säugling,
   In Wehegeröchel
   Und Sterbegewinsel
   Hinuntergurgelnd. -

Da steht geschrieben
   Vatermord! Brudermord
   Säuglinge blaugewürgt!
   Greulich! Greulich!
   Um ein Linsengericht
   Därmzerfressendes Gift
   Dem guten, sicheren Freund gemischt. -
   Hohlaugigte Krüppel,
   Ihrer Onansschande
   Teuflische Opfer -.
   Kannibalen
   Von Menschenbraten gemästet -
   Nagend an Menschengebein,
   Aus Menschenschädel saufend
   Rauchendes Menschenblut.
   Wütendes Schmerzgeschrei
   Der Geschlachteten über dem
   Bauchzerschlitzenden Messer.
   Des Feindes Jauchzen
   Über dem Wohlgeruch,
   Welcher warm dampft
   Aus dem Eingeweid. -

Da steht geschrieben -
   Die Verzweiflung schwarz
   Am Strick um Mitternacht
   Noch im quälenden Lebenskampf
   Die Seel - am höllenahenden Augenblick.

Da steht geschrieben -
   Der Vater verlassend
   Weib und Kind im Hunger,
   Zustürzend im Taumel
   Dem lockenden süßlichen Lasterarm. -
   Im Staub das Verdienst
   Zurück von der Ehre
   Ins Elend gestoßen
   Vom Betrüger -
   Im Lumpengewand
   Einher der Wanderer,
   Bettelnahrung zu suchen
   Dem zerstümmelten Gliederbau.

Da steht geschrieben
   Des heitern, rosigen Mädchens
   Grabenaher Fieberkampf;
   Der Mutter Händeringen,
   Des donnergerührten Jünglings
   Wilde stumme Betäubung.

(Eine Pause im Gefühl)

Furchtbarer, Furchtbarer!
   Das all, all im Buche geschrieben,
      Furchtbarer, Furchtbarer!

Ha die Greuel des Erdgeschlechts!
   Richter! Richter!
      Warum vertilgt mit dem Flammenschwert
         All die Greuel von der Erde
            Der Todesengel nicht?

Gerechter, sieh, die Gerichte
   Treffen den Frommen, den Sünder,
      Die Fluten, die Feuer,
         Die Erdegerichte all'.

Aber sieh, ich schweige -
   Das sei dir Lobgesang!
      Du, der du lenkst
         Mit weiser, weiser Allmachtshand
            Das bunte Zeitengewimmel.

(Wieder eine Pause)

Halleluja, Halleluja,
   Der da denkt
      Das bunte Zeitengewimmel,
         Ist Liebe!!!
            Hörs Himmel und Erde!
               Unbegreiflich Liebe!

Es steht im Heiligtum ein Buch
   Und im Buche geschrieben
      All die Millionenreihen
         Menschentage -

Da steht geschrieben
   Jesus Christus Kreuzestod!
   Des Sohnes Gottes Kreuzestod!
   Des Lamms auf dem Throne Kreuzestod!
   Selig zu machen alle Welt,
   Engelswonne zu geben
   Seinen Glaubigen. -
   Der Seraphim, Cherubim
   Staunende Still
   Weit in den Himmelsgefilden umher -
   Des Harfenklangs Verstummen,
   Kaum atmend der Strom ums Heiligtum.
   Anbetung - Anbetung -
   Über des Sohnes Werk,
   Welcher erlöst
   Ein gefallen Greuelgeschlecht.

Da steht geschrieben -
   Der gestorben ist,
   Jesus Christus,
   Abschüttelnd im Felsen den Tod!
   Heraus in der Gotteskraft Allgewalt!
   Und lebend - lebend
   Zu rufen dereinst dem Staub:
   Kommet wieder, Menschenkinder!
   Jetzt tönt die Posaun'
   Ins unabsehliche Menschengewimmel
   Zum Richtstuhl hinan! Zum Richtstuhl!
   Zum Lohn, der aufstellt
   Der Gerechtigkeit Gleichgewicht!

Jammerst du jetzt noch, Frommer?
Unter der Menschheit Druck?
Und, Spötter, spottest du
In tanzenden Freuden
Noch des furchtbarn Richtstuhls?

Da steht geschrieben -
   Menschliches Riesenwerk,
   Stattlich einherzugehn
   Auf Meerestiefen!
   Ozeanswanderer! Stürmebezwinger!
   Schnell mit der Winde Fron
   Niegesehene Meere
   Ferne von Menschen und Land
   Mit stolzen brausenden Segeln
   Und schaurlichen Masten durchkreuzend.
   Leviathanserleger
   Lachend des Eisgebürgs,
   Weltenentdecker
   Niegedacht von Anbeginn.

Da steht geschrieben -
   Völkersegen,
   Brots die Fülle,
   Lustgefilde
   Überall -
   Allweit Freude
   Niederströmend
   Von der guten
   Fürstenhand.

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