Die Bücher der Zeiten - Mike Svoboda
Mike Svoboda (*1960)
Die Bücher der Zeiten (2010 rev. 2014) für drei Frauenstimmen, Posaune und Schlagzeug
nach einem Text von Friedrich Hölderlin (1770-1843)
Johanna Zimmer, Sandra Hartmann, Anne-May Krüger – Stimme
Mike Svoboda – Posaune
Michael Kiedaisch – Schlagzeug
Programmtext
Als kaum Achtzehnjähriger verfasste Friedrich Hölderlin (1770-1843) das monumentale Gedicht Die Bücher der Zeiten. Angelehnt an die "Bücher" der Offenbarung, in denen die Werke der Menschen niedergeschrieben seien, um sie am Tag der Auferstehung nach diesen zu richten, kündet das Werk in drei Teilen von den "Gräueln des Erdengeschlechts", der Erlösung durch Christus, den Errungenschaften der Menschheit und dem gerechten Lohn dafür. Mike Svoboda (*1960) überträgt die Verkündigung dieser apokalyptischen Vision auf drei Frauenstimmen und knüpft damit an mythologische Figuren wie die Nornen, die Seherinnen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an. Sie singen, deklamieren, hauchen den Text, verspinnen ihn zu unentwirrbaren Klanggebilden und lassen Worte aus dem biblischen Bilderrausch aufscheinen, die uns davon erzählen, dass der Mensch durch die Größe seiner Taten Gott gleich werden kann. Dabei zieht Svoboda der semantischen nicht selten die klangliche Ausdeutung des Textes vor, erweitert in diesen Momenten das Gesangstrio zum Quartett mit der Posaune und betont in seiner Klangsprache die Archaik des Gedichts. Dem archaischen Moment ist auch das Schlagzeug mit seinen Naturklängen verpflichtet. Gemeinsam mit der Posaune verstärkt es die Struktur des Texts und sinnt ihm in instrumentalen Interludien nach. Instrumente und Stimmen deuten ineinander verschränkt die Dichtung aus und verschmelzen in ihren Klangfarben.
Textgrundlage
Die Bücher der Zeiten
Friedrich Hölderlin (1770 - 1843)
aus Sämtliche Gedichte 1788-1795
Herr! Herr!
Unterwunden hab' ich mich,
Zu singen dir
Bebenden Lobgesang.
Dort oben
In all der Himmel höchstem Himmel,
Hoch über dem Siriusstern,
Hoch über Uranus Scheitel,
Wo von Anbeginn
Wandelte der heilige Seraph
Mit feirender, erbebender Anbetung
Ums Heiligtum des Unnennbaren,
Da steht im Heiligtum ein Buch
Und im Buche geschrieben
All die Millionenreihen
Menschentage -
Da steht geschrieben -
Länderverwüstung und Völkerverheerung,
Und feindliches Kriegergemetzel,
Und würgende Könige -
Mit Roß und Wagen,
Und Reuter und Waffen,
Und Szepter um sich her;
Und giftge Tyrannen,
Mit grimmigem Stachel,
Tief in der Unschuld Herz.
Und schröckliche Fluten
Verschlingend die Frommen,
Verschlingend die Sünder,
Zerreißend die Häuser
Der Frommen, der Sünder.
Und fressende Feuer -
Paläste und Türme
Mit ehernen Toren,
Gigantischen Mauern
Zernichtend im Augenblick.
Geöffnete Erden
Mit schwefelndem Rachen
Ins rauchende Dunkel
Den Vater, die Kinder,
Die Mutter, den Säugling,
In Wehegeröchel
Und Sterbegewinsel
Hinuntergurgelnd. -
Da steht geschrieben
Vatermord! Brudermord
Säuglinge blaugewürgt!
Greulich! Greulich!
Um ein Linsengericht
Därmzerfressendes Gift
Dem guten, sicheren Freund gemischt. -
Hohlaugigte Krüppel,
Ihrer Onansschande
Teuflische Opfer -.
Kannibalen
Von Menschenbraten gemästet -
Nagend an Menschengebein,
Aus Menschenschädel saufend
Rauchendes Menschenblut.
Wütendes Schmerzgeschrei
Der Geschlachteten über dem
Bauchzerschlitzenden Messer.
Des Feindes Jauchzen
Über dem Wohlgeruch,
Welcher warm dampft
Aus dem Eingeweid. -
Da steht geschrieben -
Die Verzweiflung schwarz
Am Strick um Mitternacht
Noch im quälenden Lebenskampf
Die Seel - am höllenahenden Augenblick.
Da steht geschrieben -
Der Vater verlassend
Weib und Kind im Hunger,
Zustürzend im Taumel
Dem lockenden süßlichen Lasterarm. -
Im Staub das Verdienst
Zurück von der Ehre
Ins Elend gestoßen
Vom Betrüger -
Im Lumpengewand
Einher der Wanderer,
Bettelnahrung zu suchen
Dem zerstümmelten Gliederbau.
Da steht geschrieben
Des heitern, rosigen Mädchens
Grabenaher Fieberkampf;
Der Mutter Händeringen,
Des donnergerührten Jünglings
Wilde stumme Betäubung.
(Eine Pause im Gefühl)
Furchtbarer, Furchtbarer!
Das all, all im Buche geschrieben,
Furchtbarer, Furchtbarer!
Ha die Greuel des Erdgeschlechts!
Richter! Richter!
Warum vertilgt mit dem Flammenschwert
All die Greuel von der Erde
Der Todesengel nicht?
Gerechter, sieh, die Gerichte
Treffen den Frommen, den Sünder,
Die Fluten, die Feuer,
Die Erdegerichte all'.
Aber sieh, ich schweige -
Das sei dir Lobgesang!
Du, der du lenkst
Mit weiser, weiser Allmachtshand
Das bunte Zeitengewimmel.
(Wieder eine Pause)
Halleluja, Halleluja,
Der da denkt
Das bunte Zeitengewimmel,
Ist Liebe!!!
Hörs Himmel und Erde!
Unbegreiflich Liebe!
Es steht im Heiligtum ein Buch
Und im Buche geschrieben
All die Millionenreihen
Menschentage -
Da steht geschrieben
Jesus Christus Kreuzestod!
Des Sohnes Gottes Kreuzestod!
Des Lamms auf dem Throne Kreuzestod!
Selig zu machen alle Welt,
Engelswonne zu geben
Seinen Glaubigen. -
Der Seraphim, Cherubim
Staunende Still
Weit in den Himmelsgefilden umher -
Des Harfenklangs Verstummen,
Kaum atmend der Strom ums Heiligtum.
Anbetung - Anbetung -
Über des Sohnes Werk,
Welcher erlöst
Ein gefallen Greuelgeschlecht.
Da steht geschrieben -
Der gestorben ist,
Jesus Christus,
Abschüttelnd im Felsen den Tod!
Heraus in der Gotteskraft Allgewalt!
Und lebend - lebend
Zu rufen dereinst dem Staub:
Kommet wieder, Menschenkinder!
Jetzt tönt die Posaun'
Ins unabsehliche Menschengewimmel
Zum Richtstuhl hinan! Zum Richtstuhl!
Zum Lohn, der aufstellt
Der Gerechtigkeit Gleichgewicht!
Jammerst du jetzt noch, Frommer?
Unter der Menschheit Druck?
Und, Spötter, spottest du
In tanzenden Freuden
Noch des furchtbarn Richtstuhls?
Da steht geschrieben -
Menschliches Riesenwerk,
Stattlich einherzugehn
Auf Meerestiefen!
Ozeanswanderer! Stürmebezwinger!
Schnell mit der Winde Fron
Niegesehene Meere
Ferne von Menschen und Land
Mit stolzen brausenden Segeln
Und schaurlichen Masten durchkreuzend.
Leviathanserleger
Lachend des Eisgebürgs,
Weltenentdecker
Niegedacht von Anbeginn.
Da steht geschrieben -
Völkersegen,
Brots die Fülle,
Lustgefilde
Überall -
Allweit Freude
Niederströmend
Von der guten
Fürstenhand.